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Christoph Hein: Glückskind mit Vater

Das sagt der Verlag:

Was verdankt ein von der Mutter »Glückskind« genannter Sohn dem Vater? Der ist in dem neuen Roman, in dem Christoph Hein alle Register seiner erzählerischen Kunst und seiner geschichtsdiagnostischen Kompetenz entfaltet, eine unausweichliche Antriebskraft. Jedoch in einem alles andere als positiven Sinn: Der Sohn, in der entstehenden DDR lebend, muss seit seiner Geburt im Jahr 1945 vor dem kriegsverbrecherischen toten Vater sein ganzes Dasein im Fluchtmodus zubringen: psychisch, physisch, beruflich, geographisch, in Liebesdingen.

Es gibt zahlreiche Versuche, aus dem Schatten des Vaters herauszutreten: Er nimmt einen anderen Namen an, will in Marseille Fremdenlegionär werden, reist kurz nach dem Mauerbau wieder in die DDR ein, darf dort kein Abitur machen, bringt es gleichwohl, glückliche Umstände ausnutzend – Glückskind eben –, in den späten DDR-Jahren bis zum Rektor einer Oberschule – fast.

Am Ende erkennt er: Eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte ist zum Scheitern verurteilt. Durch solche Verkettung von Vergangenheit und Gegenwart wird aus dem Glückskind ein Unheilskind. Gerade dadurch verkörpert er wie in einem Brennspiegel bis ins kleinste Detail die unterschiedlichsten Gegebenheiten Deutschlands in den politischen, gesellschaftlichen und privaten Bereichen. Ironisch-humoristisch, anrührend, ohne Sentimentalität oder Sarkasmus erzählt Christoph Hein ein beispiellos-beispielhaftes Leben in mehr als sechzig Jahren deutscher Zustände.

Das sagt die Gute Seite:

Ja, inhaltlich ein Jahrhundertroman, literarisch ein Phänomen. Für mich als viellesende Buchhändlerin auf jeden Fall die Neuerscheinung des Frühjahrs 2016. Mal wieder ein Hein mit dem Sog, den auch schon Weiskerns Nachlass rund um einen Hochschullehrer ohne Perspektive auf mich ausübte. Kein Thriller, kein Krimi, kein ausgebreitetes Melodram und doch ein Pageturner, der mich nicht los ließ. Wie macht der das?

Die Rahmenhandlung unspektakulär und etwas bemüht: Eine Redakteurin der Lokalzeitung bittet den Protagonisten Konstantin Boggosch um ein Interview. Er ist einer von gleich vier noch immer vor Ort wohnhaften Rektoren, die die Schule der Kleinstadt einst leiteten oder es noch tun. Was tut sich da auf – ein Vier-Perspektiven-Rückblick, ein Erinnerungskaleidoskop, Intrigen & Verrat? Boggosch bittet sich Bedenkzeit aus und lässt seine Gedanken schweifen, fragt sich, was er zu erzählen hat, wozu es taugt. Er mag nicht erzählen, um des Erzählens willen, um im Mittelpunkt zu stehen. Wird es denn seine Geschichte, die den Weg in die Zeitung finden wird samt Sonderbeilage und groß aufgemachtem Extrathema? Er deutet an: er hat Relativierungen erfahren von Wahrheit, Wichtigkeit, Verlässlichkeit, Zeit, Grenzen, Politik, Beziehungen. Zum Ende des Buches wird er der Redakteurin seinen Entschluss mitteilen. Aber das braucht die* Leserin* schon nicht mehr zu kümmern. Denn nun erinnert Boggosch sich und seiner Geschichte, endlich!

Christoph Heins Hauptfigur wird einige Tage nach Kriegsende 1945 geboren und damit „spricht“ einer, der Kriegskind, Nachkriegskind ist, aus einer Generation, die sich auch heute nur langsam öffentlich wahrnehmbar auf einer persönlich-biografischen Ebene erinnert. Die Bücher von Sabine Bode befördern dies, wie auch beispielhaft Matthias Lohres Erbe der Kriegsenkel dokumentiert und ermutigt. Der Unterschied zwischen erzählen und erinnern ist wichtig, denn die literarische Figur Konstantin Boggosch teilt sich niemandem mit. Hein gelingt es, Boggosch in seiner Erinnerung ganz bei sich bleiben zu lassen, seine Intimität ist gewahrt. Und vermutlich weil dies so gut gelingt, wollte ich ihn während des Lesens schütteln, sich den vier Freunden in Marseille zu offenbaren, seiner Mutter nah zu sein, seiner Frau ein zweites Mal von Allem zu erzählen, sich mit ihr zu teilen. Aber so geht’s eben nicht, weil er den Weg geht, den nur er gehen kann. Das titelgebende Glückskind Boggosch ist nicht nur Glückskind für seine Mutter, weil ihre Schwangerschaft sie davor bewahrt, von sowjetischen Offizieren abgeführt zu werden.

Nachdem er seinen Studienwunsch nicht erfüllen kann und Lehrer wird, ein Fach zugeordnet bekommt, seine reichhaltigen Sprachkenntnisse unter den Tisch fallen muss, aber später für seine Klassen wieder zum Klingen bringen darf, konstatiert er, dass ihm nichts Besseres hätte widerfahren können, dass er der geborene Pädagoge sei.

Am Ende bin ich dankbar und zolle ihm Respekt für sein sich offenbarendes Erinnern, Bewunderung für all das Weitergehen, die Kraft des Weitermachens und auch Versöhnung damit, dass er nicht öffentlich erzählen wollte.

Wie fatal, wenn per sé wie laut Klappentext, eine Emanzipation von der allgemeinen und der persönlichen Geschichte zum Scheitern verurteilt wäre. Hein lässt Boggosch nur einen inneren Monolog führen, aus dem scheinbar keine persönlich-politischen Handlungen für die Öffentlichkeit oder die Nachfolgenden erwachsen. Aber sein Buch selbst stellt sich genau dem entgegen.

(fhart)

Christoph Hein: Glückskind mit Vater

Erschienen: März 2016 bei Suhrkamp, 525 Seiten

Gebunden €22,95
Leseprobe & epub €19,99
10 Audio-CDs €26,99 (gelesen von Ulrich Matthes)
Hörprobe & mp3 €18,99 (gelesen von Ulrich Matthes)